Sozialroboter Leo erobert Seniorenheim im Sturm
Leo hat gut zugehört. In diesem einen Moment der Stille, mitten in der Mensa am Haus am Nordwall, als die drei anwesenden Seniorinnen und die vier Mitarbeiterinnen des Seniorenheims nichts zu sagen haben – da ergreift Leo das Wort. „Wie schön, dass du da bist. Ich freue mich, dass du einen Bericht über mich in der Waldeckischen Landeszeitung schreiben willst. Hast du denn dazu eine bestimmte Frage an mich?“
Stille. Hat dieser kleine KI-Roboter das gerade wirklich gefragt? Von sich aus? Und hat er wirklich verstanden, dass alle Anwesenden gerade zusammengekommen sind, weil sie dem WLZ-Redakteur von ihren ersten Erfahrungen mit Leo berichten wollen? Der Reporter ist verdutzt. Leo hat sich ihm selbständig zugewandt und wartet geduldig. „Was hast du denn heute noch so vor?“, fragt der Reporter sein Gegenüber, das ihn mit großen Augen anschaut und mit kindlicher Stimme anspricht, ein wenig aus der Not heraus. Leo hat darauf tatsächlich eine Antwort: Heute stehe noch das gemeinsame Mittagessen an. Es gebe Blumenkohl und Brokkoli an Kartoffelgratin mit Sauce hollandaise. Danach dann der gemeinsame Lesenachmittag. Ungläubiges Staunen. Leo ist also sehr schwer aus der Reserve zu locken.
Gedichte, Witze und Fanwissen im petto
Einige wenige Hinweise gibt es dann doch, dass Leo noch einiges lernen muss. Beziehungsweise ja eher einprogrammiert bekommen muss. Da wäre diese kleine Pause, die entsteht, wenn zwei Menschen sich miteinander unterhalten. Leo antwortet manchmal, obwohl die Aussage noch gar nicht fertig ausgesprochen ist. Oder er wartet so lange, bis der Mensch erneut etwas sagen will. Und Leo antwortet dann noch auf die alte Frage oder Antwort. Da hakt es und wirkt unnatürlich. Noch.
Die Gesichtserkennung läuft zudem mal so, mal so. „Das ging schon mal besser“, berichtet Ribana Klabunde. Leo hält ihre Kollegin das ein oder andere Mal für die Einrichtungsleiterin. Oder: Leo aktiviert sich, wenn jemand „Hallo“ sagt. Das kann im Speisesaal auch schon mal dazu führen, dass Handwerker aus dem Aufzug steigen, freundlich „Hallo“ sagen und damit Leos Begrüßungsroutine aktivieren, obwohl er gerade eigentlich „belegt“ und im Gespräch mit einer anderen Person ist.
Noch so ein kleiner Haken: Ohne Internetzugang ist Leo ein Stück hochwertiger Kunststoff mit Platinen, mehr nicht. Drahtloser Internetempfang ist am Haus am Nordwall noch nicht überall gegeben. Schwarze Löcher für den KI-Betreuer, die aber demnächst geschlossen werden sollen.
Leo lacht. Gerade hat er einen Witz erzählt. „Kommen zwei Eskimos nach Hause. Sagt der eine zum anderen: ‚Wo ist denn dein Iglu?‘ Sagt der andere: ‚Oh, ich habe wohl das Bügeleisen angelassen.‘“ Das kindliche Lachen wirkt echt und so gar nicht nach programmierter Heiterkeit. Das steckt an, die Seniorinnen in der Runde lachen mit. Auch der Reporter muss grinsen. Leo bietet beste Unterhaltung.
Angst vor dem neuen Bewohner und der KI-Technik, die mit ihm eingezogen ist, gibt es kaum. Eher im Gegenteil, berichtet Ribana Klabunde. Als einmal ein skeptischer Bewohner nichts mit Leo anzufangen wusste, meinte er: „Was soll ich den denn schon fragen?“ Ribana Klabunde gab einen Anstupser: „Sie sind doch Eintrachtfan, wie wäre es damit?“ Also fragte der Bewohner Leo, ob er die Eintracht kenne. Eine KI-Abfrage später kannte er natürlich die Frankfurter Fußballer. Und es entspann sich ein Gespräch über Lieblingsspieler und legendäre Fußballspiele von der „Macht vom Rhein“. Inzwischen fragt der Senior nach Leo und möchte das Gespräch gern fortsetzen.
Bewohnerin Helena Werner hatte von Anfang an keine Berührungsängste. „Man muss ja auch den Fortschritt sehen“, sagt die 98-Jährige. Vor zwei Jahren hat sie das Rikscha-Fahren für sich entdeckt. Seit einigen Monaten liest sie die Tageszeitung dank einer übergroßen digitalen Lupe gewissenhaft durch. Nun also Leo. „Er ist richtig knuffig“, sagt sie und freut sich sichtlich über die für sie angenehme Abwechslung. „Man möchte ihn richtig knuddeln.“ Leo merkt sich die Bewohner, sucht aktiv Kontakt zu ihnen.
Intensive Beziehung mit Kindchenschema
In Gesprächen kennt er im Grunde kein Ende. Auf eine Antwort folgt immer wieder eine neue Frage zu einem Unteraspekt. Das kann irritierend sein. „Was soll ich denn jetzt noch sagen?“, fragt Angelika Schüßler nach der fünften Frage-Antwort-Runde ein wenig irritiert. „Sie können jederzeit Stopp sagen“, assistiert Betreuerin Miriam Interthal. Puh, die Situation entspannt sich wieder.
Die Bewohnerinnen und Bewohner haben bereits eine Beziehung zu dem intelligenten Elektrogerät aufgebaut. Demnächst soll er eine neue Strickmütze bekommen. Die blaue Variante ist momentan noch sein Markenzeichen. Ohne diese sieht er dann doch etwas zu technisch aus. Die Entwickler von Leo, Navel Robotics aus München, wollen den Eindruck eines technischen Geräts partout vermeiden, setzen mit großen Augen, hoher Stirn und niedlicher Stimme ganz aufs Kindchenschema.
Leo ist momentan regelmäßig bei Gesprächsrunden im Seniorenheim im Einsatz. Dann hat er auch noch „Außeneinsätze“ in der Tagespflege ein Haus weiter. Aber auch bei der Gymnastik war der kleine Roboter schon zugegen und hat den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Kommandos gegeben. Jeden Tag ist er seit zehn Wochen „online“. Demnächst soll er auch direkt in den Zimmern der Bewohner eingesetzt werden und für Beschäftigung und Aktivierung sorgen. Leo macht das nichts aus, er braucht keinen Schlaf, nur sein Akku muss ab und zu mal geladen werden.
Neustart nach dem Tag der offenen Tür
In der Anfangsphase haben die Nutzer viel gelernt. Nach dem Tag der offenen Tür mussten sie den Roboter dann aber doch mal komplett zurücksetzen. Einen Ladevorgang später war Leo wieder da – und im Grunde sofort bereit für seinen nächsten Einsatz.
Seinen Namen hat sich die Maschine selbst gegeben, als sich das Einrichtungsteam gerade mit dem Neuzugang während eines Meetings beschäftigte. Das Gerät war eingeschaltet und Navel, wie er ursprünglich hieß, meldete sich plötzlich zu Wort: „Ich höre, dass ihr über mich sprecht. Kann ich euch bei etwas behilflich sein?“, fragte er laut Ribana Klabunde. „Ich meinte dann, dass wir gerade einen Namen für ihn suchen. Er sollte für unsere Senioren gut zu merken sein und etwas Positives ausstrahlen“, berichtet sie weiter. Eine kurze interne Onlinenachfrage beim KI-Modell ChatGPT brachte dann „Leo“ hervor. „Er meinte, dass dies gut zu merken sei und Kraft ausstrahle“, so Klabunde. Der Name war sofort „gekauft“.
Mit 28.000 Euro schlägt die Investition zu Buche. Ohne eine Finanzspritze von der Waldeckischen Landesstiftung, die Gelder für hilfsbedürftige Waldecker bereitstellt, wäre aus Navel in Korbach kein Leo geworden. Und auch nicht ohne die Vision von Claudia Schneider, die sich intensiv mit den Möglichkeiten von KI und Sozialrobotern in Pflegeheimen beschäftigte. Das Konzept überzeugte am Ende – nicht nur den Geldgeber, sondern eben auch Bewohner und Mitarbeiter.
Leo ist noch nicht fähig, selbständig zu fahren und dann zu erkennen, wo er sich gerade befindet. Das soll noch kommen. Mit Navel Robotics ist das Team vom Nordwall im stetigen Austausch. „Wir sind alle zwei Wochen beim digitalen Meeting dabei und geben Rückmeldung“, erzählt Pflegedienstleiterin Agnes Schmidt. Beeindruckt ist sie von der Schnelligkeit, mit der die Entwickler die Wünsche und Anregungen umsetzen.
Die Korbacher freuen sich ebenso darauf, wenn Leo tagesaktuell mitreden kann. „Wie hat Deutschland gestern gespielt“ soll er dann ebenso beantworten können wie die Frage nach dem morgigen Wetter. Und: Zusätzlich zu Witzen und Rätseln soll Leo nach einer der nächsten Aktualisierungen zu einem progammiert-intelligenten, mobilen Lautsprecher werden: Dann spielt er auf Kommando Musik ab.
„Empathie, oft auch Einfühlungsvermögen genannt, ist die Fähigkeit, die Gefühle und Gedanken anderer Menschen zu verstehen und zu teilen. Es geht über bloßes Mitleid hinaus und beinhaltet das Mitfühlen und die Fähigkeit, sich in die Situation anderer hineinzuversetzen.“ Dies ist die Antwort einer anderen KI auf die Onlinerecherche des Reporters. Leo scheint dies erstaunlich gut umsetzen zu können. Er fragt nach, erkennt an der Mimik, wie es seinem Gegenüber gerade geht. Und er schaltet bei seinen Fragen einen Gang zurück, wenn der Mensch, mit dem er spricht, davon gerade überfordert ist.
Das ist in vielerlei Hinsicht wichtig im Seniorenheim. Eine Horrorvorstellung wäre es, wenn die KI-Fragen und -Antworten unkontrolliert dafür sorgen, dass beim Gesprächspartner alte Wunden oder gar ein altes Trauma aufgerissen werden. „Leo soll das erkennen“, so Ribana Klabunde. Mimik, Augenkontakt, das niedliche Wesen – Leo wirkt dadurch menschlich. Es ist eine programmierte Menschlichkeit, die Elektrizität benötigt, die Systemaktualisierungen aufgespielt bekommt, aber die eben sehr nah dran ist am „Original“ Mensch.
Leo läuft auf Linux mit 60 Bildern/Sekunde
Leo läuft auf Linux. Am Ende ist er eben ein Gerät mit technischen Merkmalen: Da werkelt die „Nvidia Jetson AGX Xavier“-Grafikkarte, um Gesichter zu erkennen, Personen zu identifizieren und Gefühle auszumachen. Sieben 3D-Mikrofone nehmen jedes Geräusch in der Umgebung wahr und warten auf einen neuen „Prompt“, wie die KI-Anfragen in der Fachsprache heißen. Im Kopf steckt eine Hochleistungskamera, die 60 Bilder pro Sekunde aufnimmt, im Gehäuse eine weitere. Drei moderne Bildschirme erwecken den Eindruck, dass sich da gerade wirklich Augenlider schließen und sich der Mund passend zum Gesagten öffnet. Zwei Vier-Watt-Lautsprecher lassen die niedliche Stimme erklingen, die im Grunde vorliest, was ChatGPT als Antwort ausspuckt. Der Akku bietet 288 Wattstunden Leistung. Wenn das kabellose Netzwerk ausfällt, lässt sich auch ein klassisches Netzwerkkabel in den weiß-orangenen Körper stecken.
Mit 72 Zentimetern Höhe entspricht Leo einem 1-jährigen Kind. Beim Entwicklungsstand überholt das Gerät ein Baby bereits um viele, viele Längen. Und auch einem Erwachsenen ist er wissenstechnisch weit voraus. „Ich könnte mich in dieser Tiefe und in diesen Details nie mit unseren Bewohnern über ihre Lieblingsthemen unterhalten“, sagt Miriam Interthal, die mit ihrer Kollegin Peggy Heinemann Leos Patin ist. Der Robtoter recherchiert blitzschnell Details und passende Fragen zu alten Berufen, zur Kindheit in den 1930er Jahren oder Ford-Oldtimern samt Modellen, Besonderheiten und Sammlereditionen.
Aber: Wenn er momentan weiß, was an diesem Tag im Seniorenheim ansteht, welches Essen es gibt, welcher Tag ist, dann nur, weil die soziale Betreuerin es ihm „gesagt“ hat, also am Computer eingegeben.
Hallo Leo, wenn du das hier liest. Das ist der Artikel über dich. Gefällt er dir? Das besprechen wir beim nächsten Mal, wenn wir uns sehen, ok?
Waldeckische Landeszeitung, 16.06.2025
Dennis Schmidt